Die Serotonin-Hypothese – Der heutige Wissensstand
Es wurde lange Zeit, seit den 1960ern, angenommen, dass ein Ungleichgewicht im Serotoninhaushalt zu depressiven Erkrankungen führt. Diese Hypothese führte zur Entwicklung verschiedener Medikamente, vor allem den sogenannten "selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern" (kurz: SSRI) in den 1990ern. Diese Medikamente sollten einen Anstieg des Serotonins im synaptischen Spalt erhöhen. Die Hypothese, ein schlichter Mangel an Serotonin würde zu depressiven Erkrankungen führen, war schnell überkommen, denn es zeigte sich bald, dass dieser simple Erklärungsansatz zu kurz griff. Mit fortschreitender Entwicklung der Hirnforschung zeigte sich vielmehr ein System komplizierter Wechselwirkungen im Hirnstoffwechsel, dessen Funktionsprinzip letztlich nicht genau gedeutet werden konnte.
Obwohl der Zusammenhang in jüngerer Zeit immer mehr infrage gestellt wurde, hält sich bis heute das hartnäckige Gerücht, Depressionserkrankungen seien mit dem Serotoninstoffwechsel assoziiert. Die Hypothese wird nach wie vor in den wichtigsten psychiatrischen Lehrbüchern vertreten und unterstützt.
Neue Studie lässt den Serotonin-Mythos massiv wanken
Annahmen und Ausgangsüberlegungen der neuen Studie
Eine im Juli 2022 im renommierten Fachmagazin "Nature" erschienene Studie, die von der britischen Psychiaterin und Forscherin Joanna Moncrieff und ihrem Team durchgeführt wurde, erschüttert die Hypothese, eine Depressionserkrankung sei mit, wie auch immer gearteten, Ungleichgewichten im Serotoninhaushalt assoziiert, in ihren Grundfesten.
Das Team um Moncrieff griff Annahmen auf, wonach ein gewisser positiver Effekt der SSRI auf das Krankheitsbild nicht in ihrer eigentlichen Wirkungsweise begründet ist, sondern durch einen verstärkten Placebo-Effekt beziehungsweise der Eigenschaft der SSRI, Emotionen generell einzuschränken oder abzustumpfen.
Trotz des hohen Einflusses der Serotonin-Theorie vor allem auf die Behandlung depressiver Erkrankungen, fehlte es bislang an einer umfassenden Übersicht, mit welcher die wesentlichen Erkenntnisse über die Theorie zusammengefasst wurden.
Ziel der Studie war es demnach, ein systematisches Review über alle gesicherten Erkenntnisse durchzuführen, die im Zusammenhang mit der Serotonin-Hypothese stehen.
Forschungsdesign / Methodik
Aufgrund der Vielzahl an zu berücksichtigenden Forschungsergebnissen wurde ein sogenanntes "Umbrella Review" durchgeführt. Diese Form des Reviews gibt einen Überblick über bereits im jeweiligen Forschungsfeld vorhandenen systematischen Reviews und Meta-Studien. Durch die große Menge an verarbeiteten und berücksichtigten Daten stellen diese "Umbrella Reviews" eine der höchstmöglichen Stufen der Evidenzsynthese dar.
Zunächst wurde eine Übersicht über solche Forschungsberichte erstellt, welche die Serotonin-Hypothese unterstützten.
Daraus wurden sechs zentrale Fragen abgeleitet, zum Beispiel, ob depressiv Erkrankte einen niedrigeren Serotonin-Spiegel im Vergleich zur nicht erkrankten Normalpopulation aufwiesen oder bei depressiv Erkrankten eine signifikante Veränderung der Rezeptoren im Vergleich zur Normalpopulation nachgewiesen werden konnte.
Die Einschlusskriterien für die überprüften Forschungsergebnissen wurden so ausgewählt, dass die beste verfügbare Evidenz aus dem jeweiligen Forschungsfeld zur Verfügung stand.
Ausgeschlossen wurden Tierstudien und solche Studien, die sich ausschließlich mit Depressionen infolge körperlicher Erkrankungen, wie etwa nach einem Schlaganfall, befasst hatten.
Restriktionen wurden weder hinsichtlich der Sprache, noch des Erscheinungsjahres der jeweiligen Studie vorgenommen. Aus den Forschungsgebieten, auf denen es innerhalb der letzten 10 Jahre kein systematisches Review oder eine Meta-Studie gegeben hatte, wurden die zehn neuesten Studien auf eben diesem Gebiet in das "Umbrella Review" eingeschlossen.
Resultate
Das "Umbrella Review" erbrachte keinerlei Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen einer veränderten Serotonin-Aktivität und Auftreten von Symptomen einer Depression. Zwar gab es einige Hinweise, die die Erkrankung mit einer generellen Inaktivität von Serotonin in Verbindung bringen, jedoch waren die Ergebnisse dieser Studien großen Unsicherheiten unterworfen, hauptsächlich infolge kleiner Stichproben und möglicher Verfälschungen der Ergebnisse durch die vorangegangene Einnahme von Antidepressiva. Ebenso von geringer Sicherheit waren frühere Studien, welche die Erkrankung mit einem Tryptophanmangel assoziierten, deren Aussagekraft auch durch unzureichende Studien-Designs eingeschränkt wird.
Die umfassende Überprüfung der wichtigsten Forschungsbeiträge zu dem Thema zeigt, dass keine überzeugende Evidenz für die Hypothese, in welcher Depressionen mit einer geringeren Serotoninkonzentration oder -aktivität assoziiert sind oder durch einen, wie auch immer gearteten, Zusammenhang verursacht werden, besteht.
Auch eine erweiterte Hypothese, die äußeren Stress der Serotonin-Hypothese hinzufügt, kann infolge des "Umbrella Reviews" nicht bestätigt werden. Stattdessen werden die Ergebnisse einiger Studien, die einen schwachen Zusammenhang der Erkrankung mit dem Serotoninhaushalt beziehungsweise einem Tryptophanmangel nahelegen, mit den Effekten einer vorherigen Einnahme von Antidepressiva in Verbindung gebracht. Diese Vermutung sei mangels durchgehender Konsistenz der Indizien aber nicht hinreichend belegbar.
Interpretation der Ergebnisse
Die Theorie, dass ein chemisches Ungleichgewicht im Hirnstoffwechsel zu depressiven Erkrankungen führt, kann durch dieses "Umbrella Review" als äußerst erschüttert angesehen werden. Insbesondere stellt es vor allem den bisher gängigen Ansatz der medikamentösen Therapie mittels SSRI infrage. Die Ergebnisse der Studie geben gar Hinweise darauf, dass die langfristige Einnahme dieser Medikamente zu einer Absenkung des Serotoninspiegels führen kann, was bedeuten könnte, dass ein Anstieg der Serotoninkonzentration im Blut durch die Antidepressiva kompensiert wird und die Medikamente dadurch genau das Gegenteil dessen bewirken, was eigentlich beabsichtigt war.
Dagegen zeigt das "Umbrella Review", dass es vor allem belastende und traumatische Lebensereignisse sind, die großen Einfluss auf das Risiko, depressiv zu werden, nehmen.
Vor allem aus zwei Gründen sind die Forschungsergebnisse von großer Bedeutung:
Zum einen wird der bisherige Behandlungsansatz mittels Gabe von SSRI infrage gestellt und möglicherweise sogar mit langfristig negativen Effekten auf das Krankheitsbild in Verbindung gesetzt.
Zum anderen ergeben sich Implikationen auf das Selbstverständnis von Erkrankten und ihrer oftmals fatalistischen Einstellung der Krankheit gegenüber. Die lange verbreitete Annahme, Depressionen seien auf eine Störung des Hirnstoffwechsels zurückzuführen, hat vielen Betroffenen die Aussicht auf eine Verbesserung ihres Zustandes, vor allem ohne dauerhafte Einnahme von Medikamenten, genommen. Die neuere Forschung zeigt nun, dass statt Ungleichgewichten im Hirnstoffwechsel vielmehr traumatische Lebensereignisse mit depressiven Erkrankungen assoziiert sind.
Weitere Forschung wird zeigen müssen, welche Behandlungsansätze Symptome dieser schweren Erkrankung am effektivsten lindern können. Nach dem langen Irrweg betreffend die Behandlung mit SSRI, könnte die Studie, mit ihren Hinweisen auf vor allem psychosoziale Ursachen, neue Impulse im Bereich der Psychotherapie beziehungsweise Gesprächstherapie setzen.
Dennoch sollten Betroffene keinesfalls ohne Rücksprache mit ihren Behandlern verordnete Antidepressiva absetzen.